Winterliches Lettland wird zum Tipp für Entspannungshungrige
Nicht wegen seiner zahlreichen Kuriositäten trägt das Kurland seinen Namen, sonder weil das lettische „Kurzeme“ eine der vier historischen Landschaften des kleinen Balten-Staates ist. Das flache, dem Zentral-Livland vorgelagerte Gebiet wurde einst nach dem baltischen Volk der Kuren benannt, die als Seefahrer bereits ihre Eigenschaft – beweglich auf See – im Namen tragen.
Kam ich doch gerade erst durch das mondäne Jurmala, in dem sich vor den Toren der 40 Kilometer entfernten Hauptstadt Riga die Sommerhäuser, Villen und Prunkbauten des 19. Jahrunderts entlang der Ostseeküste gegenseitig zu überbieten scheinen, so empfinde ich hier in der ländlichen Atmosphäre des Kurlands eine Freiheit, die von der schier endlos erscheinenden Weite der Landschaft herrührt.
Im Jadschloss „Jaunmokas Pils“, das von einer schaurigen Legende umgeben ist, mache ich Station und höre die Geschichte vom Mädchen Dorothea, die sich nach der unerfüllten Liebe mit einem deutschen Offizier im Ersten Weltkrieg als Schwangere im nahen Dorfteich ertränkte und seither als „Weiße Dame“ durch das Schloss spukt.
Nach soviel Schaurigem zieht es mich weg von diesem unseligen Ort. Ich erreiche Sabile, einen unspektakulären Ort nahe meines Ziels dem Städtchen Kuldiga. Wie aus dem Nichts starren mich hundert unbewegliche Gestalten am Straßenrand an, große, kleine, alte, junge. Es sind die Figuren von Oma Daina Kutschere. Die 66-jährige Rentnerin, die noch heute mit ihrem Motorrad mit Beiwagen durch das Dorf saust, hat vor sechs Jahren zur Midsommernacht ihre ersten zwei Figuren – Janis und Liga – geschaffen. Dann wurden es immer mehr. Musiker, Dorfleute, Tänzer, alle Gestalten aus ihrem täglichen Umfeld sind hier verewigt und versetzen den unwissenden Durchreisen in Staunen ob des skurrilen Bildes, das sich daraus mitten im Dorf ergibt.
Doch damit nicht genug in Sabile. Einmal hier, entdecke ich eine weitere Einzigartigkeit, die dieser kleine Ort zu bieten hat. Denn Andris Dzère Drubazas ist Bauer und kein geringerer als der einzige Winzer Lettlands – und wohl auch der am nördlichsten in Europa angesiedelte. Bis zu 1000 Liter Weißwein und sogar 200 Liter Rotwein produziert der Lette hier jährlich. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Ein trocken-fruchtiger Weißer und eine halbtrockener Roter gleich einem Merlot erfreuen den Weinliebhaber seit nunmehr vier Jahren. Das meiste kaufen durchreisende Touristen, die mein Schild an der Straße sehen, erzählt Andris uns in seinem kleinen urigen Weinkeller.
Kuldiga – Filmkulisse und Winterdorf aus dem Bilderbuch
Noch völlig berauscht von den Erlebnissen der Landpartie, oder auch den Erzeugnissen von Winzer Andris erreiche ich Kuldiga, eine Stadt im Westen Lettlands, die ob ihrer malerischen Verträumtheit und ihrer mittelalterlichen Struktur zahlreichen Filmen bereits als Kulisse diente. Der Ort an der Venta mit seiner wechselvollen Geschichte schwedischer, polnischer, deutscher und russischer Natur rühmt sich des breitesten Wasserfalls Europas, Ventas Rumba, der zwar nur zwei Meter hoch, dafür aber 240 Meter breit ist. Malerisch liegt zu dieser Vorweihnachtszeit Kuldigas Hauptstraße vor mir, adventlich geschmückt kommt der Ort mit seinen kleinen Lädchen, verwinkelten Gassen und seiner orthodoxen Kirche, die wie die Kreation eines Zuckerbäckers anutet, wie ein Weihnachtsdorf aus dem Bilderbuch daher und übt sich in winterlicher Beschaulichkeit.
Diesem ursprünglichen Landleben entstammt der klassische Lette also. Arbeitssam, bodenständig, manchmal etwas schwermütig aber nie unterwürfig, beschreibt ihn mir meine Reiseleiterin. Und während meines kurzen Aufenthalts im Land lerne ich auch die offene, gastfreundliche und herzliche, aber keineswegs redselige Natur des Letten kennen.
Riga – baltische Metropole im Zeichen von Bernstein und Jugendstil
War ich doch erst kurz zuvor in der lettischen Hauptstadt Riga gelandet, fühle ich mich schon nach kurzer Zeit mit der Gegend vertraut. Liegt es an den auffällig durch die deutschstämmigen Siedler beeinflussten Errungenschaften architektonischer und technischer Natur? Nirgends sonst habe ich eine unverkennbare Ausprägung der belle Epoque und des Jugendstils so deutlich wahrgenommen, wie hier. Denn obwohl Riga seit Beginn des 18. Jahrhunderts zum russischen Zarenreich gehörte, ist der Einfluss der deutschen Oberschicht aus dem 19. Jahrhundert noch deutlich sichtbar in der Stadtkultur. Eine wahre Augenweide bietet sich mir bei einem Spaziergang durch die „Alberta Iela“, dem Jugendstil-Viertel der Stadt. Ausgezeichnet restaurierte Stadtvillen zeigen in ihren Fassaden die Errungenschaften des beginnenden, 20. Jahrhunderts in dem nach Bischof Albert benannten Stadtteil, geprägt vor allem durch den Rigaer Architekten Michail Eisenstein.
Auch der Berga Bazar unweit des markanten Hauptbahnhofs begeistert mich. Denn in den architektonisch gelungenen Passagen des kleinen Viertels befinden sich nicht nur ausgesucht hochklassige Geschäfte mit lettischen Waren, die dieser Oase den Beinamen „kleines Paris“ eintrugen, sondern auch das berühmte Hotel Berg – eines der kleinsten 5-Sterne-Hotels der Welt.
Spazierend durch die weihnachtlich geschmückten, kleinen und großen Gassen der Hauptstadt hin zum großen Weihnachtsmarkt am Domplatz wundere ich mich immer weniger ob des Kulturreichtums, dass diese Stadt 2014 zur Kulturhauptstadt Europas wird und seine ganze Pracht dann in allen Nuancen zeigen kann.
Lettische Leckereien oder der Geist des Black Balzam
Gesättigt der architektonischen Erstaunlichkeiten, wende ich mich in der ehemaligen Hansestadt mit ihren 700.000 Einwohnern dem Handel, Lifestyle und den kulinarischen Freuden zu. Der Riga Zentralmarkt ist nicht nur ein Paradies für Shopping-Hungrige mit kleinem Geldbeutel und einem Sinn für Ausgefallenes. Der Handelsplatz in den ehemaligen Zeppelin-Werkshallen ist auch ein Fest für die Sinne. Aufgeteilt in Fleich-Fisch und Obst-Gemüsehallen wandelt der Besucher vorbei an langen Theken mit aufgetürmten Waren, schreienden Marktfrauen, gelangt zu unzähligen Ständen mit dem im Baltikum beliebten Bernstein in allen Verarbeitungsformen, findet Kurioses, Erheiterndes oder Gewöhnungsbedürftiges – langweilig wird es mir hier nicht.
Pilze in jeder Konservierungsform sind an jeder Ecke zu finden. Denn Pilzgerichte gehören neben Suppen zu den Lieblingsspeisen des Letten.
Am Ende dieses Ereignisreichen Stadtbummels steht für mich noch das Nachtleben auf dem Programm. Wer die Wahl hat, hat die Qual denke ich bei mir. Denn die kleinen Bars, Cafés und Restaurants überbieten sich an Kuriosität und Gemütlichkeit gegenseitig. Da erinnere ich mich an das klassische, lettische Alkoholgetränk „Black Balzam“ und suche daher die „Black Magic“ Bar in der Innenstadt auf. In diesem urgemütlich-kurios eingerichteten Cafe im Stil einer Hexenküche bekomme ich nicht nur zahlreiche Varianten des schwarzen Likörs, ich treffe dort auch eine für den Besucher unvermittelte Überraschung an, die sich in Worte nicht kleiden lässt.
Und während ich die Zeit mit meinem Bitterlikör verrinnen lasse, lasse ich die wenigen Tage in dem kleinen Land des Baltikums an mir vorbeiziehen. Die atemberaubende Natur des Kurlands mit seinen unberührten, winterlichen Schönheiten. Die dekadent-luxuriösen Viertel des Jurmala an der verschneiten Ostseeküste, aber auch die pulsierende Metropole Riga mit ihren tausend Gesichtern, kulturellen Errungenschaften und ihrer warmherzigen Atmosphäre hier im kalten, hohen Norden. Ob im Sommer hier alles anders ist? Das zu beantworten zwingt mich zu einem baldigen, erneuten Besuch in Lettland, der Perle des Baltikums.
Internet: http://www.wortbaustelle.de
Publiziert am: Dienstag, 11. Dezember 2012 (3183 mal gelesen)
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